Vergleichende Analyse zwischen „Frühling 1938“ (Bertolt Brecht) & „Anemone“ (Gottfried Benn)

Vergleichende Analyse zwischen
„Frühling 1938“ (Bertolt Brecht) &  „Anemone“ (Gottfried Benn)

Am 17. April 1938 verfasste Bertolt Brecht sein Gedicht „Frühling 1938“ und veröffentlichte es 1949 in „Sinn und Form“, ebenso unter dem Titel „Frühling 1938“ in „Hundert Gedichte“ 1951. Es thematisiert die negativ betrübte Grundhaltung eines lyrischen Ichs dem nahenden Zweiten Weltkrieg gegenüber, dessen vernichtende Gewalt es fürchtet. Gottfried Benns Gedicht „Anemone“ aus dem Jahre 1948 thematisiert das Aufblühen eben jener bereits im Titel namentlich erwähnten Blume, die einer kalten und gnadenlosen Welt durch ihre Blüte neuen Zauber verleiht. Im Folgenden werden beide Werke unter Berücksichtigung der literarischen Charakteristika der Autoren analytisch miteinander verglichen.

„Frühling 1938“ lässt sich inhaltlich folgendermaßen wiedergeben: Das lyrische Ich erzählt von einem Schneesturm der am Ostersonntagmorgen über die Insel, auf der sich das lyrische Ich befindet, treibt. Um es vor jenem Sturm zu schützen, legt es zusammen mit seinem jungen Sohn einen Sack über das kleine Aprikosenbäumchen, welches ebenfalls auf der Insel steht. Ferner berichtet das lyrische Ich wie es durch diese Handlung von seinem Vers abgelenkt wurde, in dem er jene kritisiert, die in Begriff sind einen alles zerstörenden Krieg anzufachen. Betrübt über diese Tatsache schweigen Vater und Sohn beide über die Situation.

Äußerlich ist außerdem Folgendes von Bedeutung: Das Gedicht mit seinen zehn Zeilen ist reimlos;  eine Rhythmisierung sucht man vergebens. Der oftmals auftauchende Zeilenschnitt lässt gelegentlich fragen, wie es weitergeht, da man es aufgrund des bisher Verlauteten nicht ahnen kann. Die unregelmäßige Wort –und Silbenzahl sorgt ferner für unregelmäßig lange Verse. Überträgt man diese Äußerlichkeiten auf den Inhalt des Gedichts, lassen sich bereits bei grober Betrachtung gewisse Analogien zwischen Aufbau und Inhalt erkennen. Zum einen sind die ersten beiden Verse mit ihrer, die Ausgangssituation der Handlung umreißenden Funktion, wie eine Einleitung für das Gedicht zu sehen. Der Titel des Gedichts, der zunächst den Eindruck einer simplen Datierung erweckt, enthält bei genauerer Betrachtung weitaus mehr, wenn man weiß, dass deutsche Truppen am 12. März 1938 in Österreich einmarschiert waren und dass am 13. März das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ erlassen, also die Annexion Österreichs legalisiert wurde. Dann bekommt „Frühling 1938“ den Beigeschmack von „Zeit der Eroberung“, „Deutschland breitet sich gewaltsam aus“: Vorkriegszeit. Der Diminutiv „Aprikosenbäumchen“ (V.4) unterstreicht die Zerbrechlichkeit und Hilflosigkeit dieses kleinen Bäumchens gegen den herrschenden Schneesturm auf der Insel und den damit verbundenen Frost. Ebenso wie der Baum fühlt sich auch das lyrische Ich (welches durchaus auch als allgemeiner Repräsentant des kleinen Bürgers gesehen werden darf, ohne es zu diffamieren) schutzlos vor der Bedrohung des nahenden Krieges. Daran anknüpfend kann auch die Wahl des „Ostersonntag“ (V.1) nicht als willkürlich angesehen werden. Ostern wird allgemein als das Fest der Auferstehung und der Kraft des Lebens gesehen, was die bereits erwähnte Situation der Kriegsvorbereitung zwar auf keine Weise relativiert, aber zusammen mit dem kleinen Aprikosenbaum (als Form des bedrohten Lebens) der beschriebenen Situation auf ironische Weise noch mehr Tiefe verleiht. Der bereits erwähnte Kontrapunkt zwischen Baum und Sturm steht ferner für die Vergänglichkeit des Lebens. Außerdem lässt sich trotz der nicht vorhanden Gliederung des Gedichts in einzelne Strophen eine inhaltliche Teilung erkennen. So kann es passieren, dass man das Gedicht bis zu dem Punkt, an dem das lyrische Ich seinen, die Kriegsvorbereitung und seine Treiber kritisierenden, Vers erwähnt, als reines Naturgedicht gesehen werden, da bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel mehr geschieht, als die Beschreibung der Wetterlage und der Jahreszeit, in die die Handlung einzuordnen ist. Der dadurch entstandene Bruch, zwischen friedvoller Frühlingsatmosphäre und Krieg, ist sicher nicht zufällig von Brecht gewählt worden, da er Vers 6 auffallend kürzer hält, als die vorhergegangenen. Somit schafft er es eben jenen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Durch die Verwendung zahlreicher Enjambements schafft er eine unruhige, den Lesefluss behindernde, Verbindung zwischen den Versen, welche eine gewisse inhaltliche Unruhe zu unterstützen vermag. Es fällt außerdem auf, dass das lyrische Ich die Sorgen und Gedanken einer ganzen Population zu repräsentieren meint: „einen Krieg […], der Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich Vertilgen mag.“ (V.6 f.). Es bricht die verallgemeinerte Angst vor totaler Zerstörung hinunter bis zu seinen Sorgen über die eigene Existenz, was zum einen Mitgefühl beim Leser für den Protagonisten evozieren mag, aber auch die humane Seite einzelner Schicksale hinter einem massenhaft vernichtenden und industrialisierten Krieg wie den Zeiten Weltkrieg zum Ausdruck bringt. Dies lässt Brecht bereits zu Anfang anklingen, indem von einer Insel die Rede ist. Ähnlich wie ein einzelner Mensch in einem großen Krieg ist eine Insel nur ein kleiner Fleck inmitten eines unkontrollierbaren Mediums, was (in diesem Falle) Gefahren birgt.

Zu Gottfried Benns Gedichtlässt sich äußerlich folgendermaßen beschreiben: Das Gedicht besitzt drei Strophen mit jeweils vier Versen, die ein Kreuzreim Schema aufweisen (hier kann man direkte äußerliche Unterschiede zu Bertold Brechts frei verfasstem Gedicht erkennen). Benn bedient sich ferner eines dreihebigen Jambus mit abwechselnd alternierenden Kadenzen. Hierzu lässt sich auf der inhaltlichen Ebene Folgendes wiedergeben: Das lyrische ich spricht die Anemone als „Erschütterer“ (V.1) an. Es bezeichnet sie als Licht und Glauben bringendes Medium für eine kalte Welt (V.2). In der zweiten Strophe konkretisiert es die Vorstellung von einer kalten Erde. Es thematisiert die Machtherrschaft und den Mangel an Güte in der Welt und erwähnt erneut die Anemone als Kompensator für diesen Mangel. Diesen Prozess führt es zurück auf die Blüte der Blume, die, „schweigend hingesät“ (V.8) für die Rettung aus dieser Lage sorgt.

Die erste Äußerlichkeit die bereits bei erster Betrachtung stark ins Auge sticht ist die Wiederholung des Satzanfangs: „Erschütterer-: Anemone“ (V.1 und 9) in der ersten und dritten Strophe des Gedichts sowie die Ellipse in der zweiten Strophe: „Der Erde ohne Güte.“ (V.4), die jeweils das angesprochene Subjekt in den Vordergrund rücken. Die Rolle der Blume als „Erschütterer“ (V.1) ist allerdings keinesfalls als negativ zu betrachten, wenn man die weitere Beschreibung der Pflanze betrachtet: „Wort des Glaubens, des Lichts.“ (V.4). Durch Wiederholungen wird die Bedeutung der unscheinbaren Anemone unterstrichen. Sie erschüttert die Welt regelrecht mit ihrer Macht und Wirkung. Die direkte Ansprache des lyrischen Ichs zur „Anemone“ (vgl. „deine“ [V.3] „du“ [V.10]) zeigt eine gewisse Beziehung des Sprechenden zu ihr. Verglichen mit der Rolle der Pflanze als Repräsentant des Lebens in „Frühling 1938“ lässt sich sagen, dass auch bei Brecht das kleine „Aprikosenbäumchen“ als Quelle des Lebens gesehen wird. Der signifikante Unterschied hierbei ist jedoch, dass die „Anemone“ aufblüht und der Welt neuen Glanz verleiht, sie sogar erschüttert. Das Bäumchen jedoch muss vor dem nahenden Schneesturm geschützt werden um sein Leben zu retten (hier ist es die Pflanze selber, die erschüttert wird). Dies steht in Zusammenhang mit der Parallelität des Wortes „schweigend“ (vgl. „Anemone“ [V.8] und „Frühling 1938“ [V.8]) in beiden Gedichten, der bei genauerer, simultaner Betrachtung beider Werke auffällt. Der Unterschied liegt hier jedoch in der in „Anemone“ positiven und in „Frühling 1938“ einer negativen Konnotation. Die Welt schweigt über das Aufblühen der Blume bei Benn, was den Eindruck von Glückseligkeit vermittelt, wohingegen Vater und Sohn bei Brecht über das nahende Unheil der Krieges keine Worte verlieren und es (so scheint es zumindest) auch nicht wollen. Brechts „Anemone“ ist somit nicht nur heilbringende Instanz, sondern auch Kraft der Veränderung. Darüber hinaus kann sie, glaubt man dem lyrischen Ich, als Konstante gesehen werden. So kann „das Licht, [das] einst der Sommer als Krone aus großen Blüten flicht.“ (V.10 f.) als Blick in die Zukunft gewertet werden und nicht als Rückschau auf einen zurückliegenden Sommer. Dieser hoffnungsvolle und durchaus positive Blick in die Zukunft steht wiederum ebenfalls im Konflikt zur dystopischen Stimmung des lyrischen Ichs in „Frühling 1938“. Der Frühling dort kann als letztes Aufblühen der Welt gewertet werden; eine schöne Gegenwart. Das lyrische Ich in „Anemone“ kritisiert die kalte und gnadenlose Gegenwart, in der es sich befindet und prognostiziert jedoch einen krassen Wandel ins Positive durch eben bereits erwähntes Aufblühen der Welt.

Zum Titel des Gedichts lässt sich außerdem noch erwähnen, dass bereits das Wort „Anemone“ an sich poetischen Charakter besitzt und ähnlich der, bei Hugo von Hofmannsthals „Ein Brief“ (1902) von Lord Chandos angesprochenen Lösung zu seiner Sprachkrise, poetischen Bildersprache ist. Chandos sieht sich in eine schwere Sprachkrise versunken, da seiner Meinung nach die vorhandene Sprache keine adäquate Wiedergabe der Realität zulässt. Seine Lösung ist gleichzeitig die Verwendung einer „poetischen Bildersprache“; im Falle der „Anemone“ sogar lautmalerisch von großer Besonderheit. So drücken zum Beispiel die von Gottfried Benn verwendeten „n“ –und „m“-Laute in „Anemone“ von sich aus bereits eine gewisse Weiche und Zärtlichkeit aus. Der Begriff der „Anemone“ (wobei in diesem Falle wohl tatsächlich die Blume gemeint ist, und nicht jenes gleichnamige Unterwasserlebewesen, da in dem Gedicht von einer „Blüte“ (V.7) die Rede ist) wird dadurch stark – aber rein durch die lautmalerische Qualität des Wortes – verbildlicht. Unterstützt wird das durch zweierlei:
Zum einen den Gegensatz des Wortes „Erschütterer“ zum Titel. Die harten „sch“ –und „t“-Laute bilden einen Gegensatz zu dem Weichen Klang des folgenden Wortes, was ihre offensichtliche inhaltliche Verschiedenheit unterstützt. Hierzu fällt klar auf, dass Bertolt Brechts nüchterner (fast schon prosaartige) Schreibstil in „Frühling 1938“ keinerlei lautmalerische Besonderheiten aufweist, die sich mit Gottfried Benns Werk vergleichen ließen. Dies so stehenzulassen, wäre allerdings auch voreilig, da diese registrierende Nüchternheit Brechts auch die düstere Grundstimmung des Gedichts gut zu stützen vermag.
Zum anderen ist Benns Verwendung von Ausdrucken der Stille wie etwa „murmelt“ (V.3), „leise“ (V.7) und „schweigend“ (V.8) Überbringer einer gewissen Zauberhaftigkeit, die durchaus auch von geheimnisvoller Natur ist. Die dadurch vermittelte ruhige Grundstimmung des gesamten Gedichtes verleiht der Prognose des lyrischen Ich für eine positive Zukunft eine hohe Glaubwürdigkeit. Anders ist dies bei Brecht. Zwar versteht sich das Zukunftsbild des lyrischen Ichs von selbst, jedoch hat die genannte Ausgangsituation einen völlig anderen Charakter: „Ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel.“ (V.2).

Abschließend lässt sich zu den Gedichten „Frühling 1938“ und „Anemone“ Folgendes sagen: Gottfried Benn macht klaren Gebrauch von Poésie pure, indem er die Verzauberung der Welt thematisiert und dem eine Blume in einem als wunderschöne beschriebenen Erscheinungsbild zugrunde legt. Bertolt Brecht hingegen bringt die Zukunftsängste, die sicherlich einen großen Teil der Vorkriegsgeneration des zweiten Weltkriegs plagte, zum Ausdruck. Beide Autoren setzen eine Pflanze als Quelle des Lebens ins Licht, stellen sie nur unterschiedlich da: einmal als etwas Gewaltiges, Kraftvolles und als etwas Empfindliches, Wertvolles, Schützenswertes.