Als das durch einstmals viele kleine (Stadt-)Staaten und Herzogtümer zersplitterte Deutschland nach den drei Einigungskriegen (1863, 1866, 1870/71) endlich eine Einigung erfuhr, und am 18. Januar. 1871 zum Deutschen Kaiserreich proklamiert wurde, änderte sich die Politik und die Mentalität des Landes grundlegend.
Zunächst einmal muss deutlich sein, dass sich Innen- sowie Außenpolitik des Deutschen Kaiserreichs ab der Reichsgründung 1871 nicht durchgehend bewerten lassen, da diese sich in zwei grundverschiedene Programme teilt: die Innen- und Außenpolitischen Grundlagen Otto von Bismarcks, sowie die des dritten Deutschen Kaisers Wilhelm Ⅱ.
1.) Innen- und Außenpolitische Grundlagen Otto von Bismarcks
Nach der Reichsgründung 1871 wurde der ehemalige König Preußens zum ersten Kaiser des Deutschen Reiches. Wilhelm Ⅰ. jedoch war ein Kaiser, der selbst wenig in das politische Geschehen während seiner Regentschaft (1871-1888) eingriff. Der eigentliche Funktionär war Otto von Bismarck, der nach der Reichsgründung vom Preußischen Ministerpräsidenten zum ersten Reichskanzler ernannt wurde.
Bismarck war zu jederzeit monarchistisch (v.a. gegenüber Preußen und somit dem Deutschen Kaiser) und konservativ eingestellt. Er gilt als einer der revolutionärsten Politiker seiner Zeit, ausgezeichnet durch sein fortschrittliches Denken und dem realistischen Einschätzen der
Machtverhältnisse in Europa.
Seine Innenpolitik fokussierte sich auf die sogenannte „Innere Reichsgründung“, denn er sah das frisch gegründete Deutsche Kaiserreich als sehr instabil an. Deshalb versuchte er, alle Gefahren durch Gesetze und ein autoritäres Regime einzudämmen (= „negative Integration“). Sein
Augenmerk lag unter anderem auf dem Kampf gegen alles, was die damalige konstitutionelle Monarchie oder die immer noch hegemonielle Stellung der Hohenzollern, und damit Preußens, im Deutschen Kaiserreich gefährden könnte. Eine dieser Bedrohungen stellten die Sozialdemokraten da, von deren Seite Bismarck eine Revolution mittels Verbreitung marxistischer Ideologien befürchtete. Als 1877 auf Kaiser Wilhem Ⅰ. zwei Attentate verübt wurden (wobei diese nachweislich
nicht sozialdemokratischer Natur waren), nahm Bismarck dies zum Anlass um schließlich 1878 die „Sozialistengesetze“ im Reichstag durchzubringen.
Diese „Gesetz(e) gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verbaten im Wesentlichen jegliche Versammlung, Propaganda und Parteiausübung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), jedoch nicht die Partei selbst, weshalb sie auch weiterhin noch Stimmen
bekam. Einen weiteren Feind sah Otto von Bismarck in der katholischen Kirche. Das lag vor allem daran, dass viele deutsche Katholiken zur damaligen Zeit nach Rom und Vatikanstadt orientiert waren. Im 1864 veröffentlichten ‚syllabus errorum‘ schreibt der Papst über weltliche Irrtümer, zu der auch der Liberalismus und der Nationalismus zählten. Da das Deutsche Nationalgefühl durch die Reichsgründung entfacht war und Bismarck nach 1871 stark mit den Liberalisten zusammen arbeitete, um die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten des vereinten Kaiserreichs auszuarbeiten, standen diese päpstlichen Aussagen im Gegensatz zu Bismarcks Politik und bedrohten somit die innere deutsche Stabilität. Auch hier nahm der Reichskanzler eine Art der negativen Integration vor
(in diesem Kontext auch als ‚Kulturkampf‘ bekannt), in dem er Gesetze verabschieden ließ, die die Macht und den Einfluss der (katholischen) Kirche und der Zentrumspartei (einer Partei bestehend aus Katholiken, Polen, Elsassern und Welfen, mit Führung durch den ehemaligen hannoveraner Minister Ludwig Windthorst [Preußen annektierte Hannover 1866 und machte es zur Provinz, eine passive Verfeindung entstand]) einschränken sollten. Pfarrern wurde das politische Engagement verboten, die Arbeit des Jesuitenordens wurde unmöglich gemacht, Schulen wurden zunehmend unter staatliche Gewalt gestellt, den Kirchen wurden die staatlichen Gelder versagt, und nicht
zuletzt führte Bismarck die Zivilehe ein, die das kirchliche Monopolrecht der Eheschließung aufhob. Allgemein hat sich Bismarck während seiner Wirkungsphase im Deutschen Kaiserreich immer denjenigen Parteien zugewandt, die ihm gerade dienlich waren. So machte er sich beispielsweise die anfänglich so von ihm geschätzten Liberalen, später machtlos, indem er sie nicht mehr unterstützte. Eine weitere, besonders revolutionäre Innenpolitische Maßnahme stellten die von Bismarck
eingeführten sozialen Sicherungen da. Durch die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) und die Invidalitäts- und Altersversicherung (1889) sollten nicht nur die sozialen Unruhen befriedigt werden, sondern insbesondere auch die Arbeiter und die Sozialisten. Er handelte in letzterer Hinsicht nach dem Prinzip ‚Zuckerbrot und Peitsche‘:
„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung zu anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“ (Zitat nach Otto von Bismarck: Gesammelte Werke [Friedrichsruher Ausgabe, 1924/25])
Otto von Bismarcks Außenpolitik stützte sich darauf, ein defensives Bündnissystem zu erschaffen, beruhend auf der Aussage, dass das Deutsche Kaiserreich ‚saturiert‘ sei (vgl. saturiert = gesättigt;
zufrieden). Dieses Bündnissystem hatte vor allem das Ziel, Frankreich im europäischen Raum zu isolieren um keinen Folgekrieg nach dem für die Reichsgründung entscheidenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu riskieren. Auch dachte er, dass es zunächst Priorität haben Müsse,
das Reich von Innen zu stärken und aufzbauen. Schon allein um die Elsass-Lothringen im deutschen Besitz zu behalten, setzte er auf eher passive Außenpolitik. Des Weiteren arrangierte sich Bismarck mit dem Zar Russlands, um einen Zweifrontenkrieg auszuschließen. In der Praktik sah das Bündnissystem folgendermaßen aus:
- u.A. Drei-Kaiser-Abkommen 1873: DE/RU/Öst.-Ung.
- u.A. Rückversicherungsvertrag mit Russland 1887 (Neutralitätsversprechen RU → DE, falls Angriff FR → DE und DE → RU, falls Angriff Öst.-Ung. → RU)
- Gefahren für europäischen Frieden: Krieg-in-Sicht-Krise 1875, Orient-Krise 1886 während Krieg-in-Sicht-Krise erstmals Machtkonstellation d. 1. Weltkriegs (Großbritannien und Russland unterstützen Frankreich
Zudem involvierte Bismarck sich bewusst nicht in die Kolonialpolitik, die beispielsweise das Britische Empire praktizierte. Großbritannien hatte in der Geschichte stets die ‚Balance of Power‘ im europäischen Raum zum Ziel, was das defensive Bündnissystem Bismarcks zusätzlich gewährleistete und somit die Weltmacht zufrieden stellte. Allerdings war eben dieses System aus Allianzen von einer erheblichen Komplexität und Unübersichtlichkeit geprägt, sodass es im tatsächlichen Kriegsfall kaum praktikabel gewesen wäre, und somit viel mehr auf der Angst der europäischen Mächte voreinander baute.
2.) Innen- und Außenpolitische Grundlagen Kaiser Wilhelm Ⅱ.
Als Kaiser Wilhelm Ⅱ. im Jahr 1888, das sogenannte ‚Drei-Kaiser-Jahr‘, an die Macht kam, veränderte sich die Politik des Deutschen Kaiserreiches entscheidend. Im Gegensatz zu Kaiser Wilhelm Ⅰ. integrierte sich der jetzige deutsche Kaiser entscheidend in die Angelegenheiten seines Reiches und ließ nicht mehr den Reichskanzler über die Politik verfügen, weshalb er Bismarck auch 1890 aus seinem Amt entließ.
Sein innenpolitisches Programm hielt sich gewissermaßen in Grenzen. Kaiser Wilhelm Ⅱ. etablierte jedoch den übersteigerten nationalen Stolz unter den Deutschen, der den Wunsch nach einem „Platz an der Sonne“ im deutschen Volk prägte. Auch den durch den Kulturkampf geschädigten
Katholiken wollte er sich annähern, indem er sie mit Geldern entschädigte. Die alten Gesetze wurden jedoch nicht zurück genommen.
Die größte innenpolitische Veränderung stellte jedoch die Militarisierung des Volkes da. Das Militär wurde zu einer immer höher angesehenen Bevölkerungsgruppe, welche für „Gott, Vaterland und Kaiser“ kämpfen sollten. Auch die Rüstungsindustrie wurde inzuge dessen immer weiter hoch gefahren.
In seiner Außenpolitik integrierte sich Wilhelm Ⅱ. insbesondere in der Kolonialpolitik, um die Macht des deutschen Kaiserreichs auszuweiten und Fläche zu gewinnen. Dies zog nicht nur die Aufmerksamkeit des Britischen Empires auf sich, welches das Gleichgewicht der Mächte in Europa gefährdet sah, sondern auch das Misstrauen der anderen europäischen Staaten. Die damaligen, von Otto von Bismarck geschaffenen, Bündnisse, allen voran der Rückversicherungsvertrag mit
Russland, wurden im Wilhelminischen Zeitalter nicht verlängert, was die Bündnisse der späteren Entente begünstigte und Deutschland in die von Bismarck so sehr gefürchtete Situation eines möglichen Zwei-Fronten-Krieges brachte (1894 schloss Russland ein defensiv ausgerichtetes
Bündnis mit Frankreich). Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass die wilhelminische Außenpolitik in konkreter Aktion
ziellos, unstetig und sehr unberechenbar für die anderen Mächte war, was das Misstrauen und die Antipathie gegenüber dem deutschen Kaiserreich weiter schürte. In Letzter Bewerteung stehen sich die beiden innen- und außenpolitischen Programme von Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm Ⅱ. mit großen Gegensätzen gegenüber. Bismarck, mit seinem defensiven aber unrealistischen Bündnissen, sicherte dem deutschen
Kaiserreich lange Zeit des Friedens und förderte die Sicherheit des neu entstandenen Reiches. Der Preis hierfür war jedoch die Unterdrückung staatsfeindlicher Gruppen jeglicher Art, die der Reichskanzler durch eine negative Integration ausmerzen zu versuchte. Kaiser Wilhelm Ⅱ. war im Nachhinein betrachtet mit seiner machthungrigen und nationalistischen
Einstellung ein entscheidender Faktor für die Geschehnisse des 1. WK, der die deutsche Geschichte nachhaltig veränderte und prägte.